Michaela Huber (Foto: Debora Höly)

Michaela Huber: „Lass niemanden zurück. Lass niemanden im Stich. Das muss die Devise sein!“

Ein Transkript der Podcast-Episode „Wie können wir der Seele helfen, Michaela Huber?“

Michaela Huber (Foto: Debora Höly)
voll meta!
Die Flutkatastrophe – Wie können wir der Seele helfen, Michaela Huber?
Loading
/

Sechs Wochen nach der Flutkatastrophe haben wir zahlreiche Bilder der Zerstörung gesehen: Häuser in Trümmern, kaputte Straßen, zerstörte Landschaften. Was wir jetzt jedoch noch nicht sehen: das Ausmaß der Katastrophe im Inneren, die Wunden der Seele. Wie können die Betroffenen der Flutkatastrophe das Gesehene und Erlebte gut verarbeiten? Und wie können wir sie dabei unterstützen? Darüber sprach die Journalistin Debora Höly mit Traumatherapeutin Michaela Huber am 20. August 2021.

Unerwartete Ereignisse sind schwerer zu verarbeiten

Debora Höly: Frau Huber, am 14. Juli 2021 begann es zu regnen und hörte nicht mehr auf. Es waren unglaubliche Wassermassen, die da vom Himmel fielen und für die allermeisten Menschen kam all das völlig unerwartet. Was macht es mit der Seele eines Menschen, so ein Ereignis mitzuerleben?

Michaela Huber: Zuerst ist es etwas, das wir nicht erwarten. Es regnet halt und dann regnet es immer mehr. Es passiert irgendetwas – durch diesen Regen – und wir ahnen, dass es noch schlimmer werden könnte. Und plötzlich passieren dramatische Ereignisse. Mit so einem ansteigenden Stresspegel werden wir Menschen normalerweise relativ gut fertig, wenn wir erwachsen sind, über viele Möglichkeiten verfügen uns zu verständigen und wenn wir die Situation kennen oder vorgewarnt wurden. Beides trifft aber für viele Menschen in dieser Region nicht zu. Weder kannten sie so ein Drama, noch waren sie vorgewarnt. Das heißt, die Verarbeitungsmöglichkeiten, entsprechende Vorbereitungen zu treffen, sich innerlich zu wappnen oder sich äußerlich mit anderen zusammen zu tun, fehlten. Ereignisse, die sehr unerwartet kommen, sind für unsere Seele und für unser Gehirn schwerer zu verarbeiten. Dann fängt es an, fieberhaft nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Dabei gibt es ein ganz bestimmtes Phänomen, nämlich dass der ansteigende Stresspegel immer mal wieder unterbrochen wird, indem man pseudo-ruhig wird. Wenn der Angstpegel steigt, gibt es eine Reaktion: das Präfrontalhirn und der Hippocampus schalten sich runter. Das hat damit zu tun, dass diese Angst uns nicht so dominieren soll und wir völlig gelähmt sind. Das heißt, immer wieder zwischendurch haben wir so kurze Entfremdungsmomente. „Wo bin ich? Was ist das hier? Ist das ernst zu nehmen?“ Es ist ein bisschen wie träumen, nicht mehr genau wissen, was man machen soll. Dann gibt es Erstarrungsmomente, dieses Gefühl von „Ich will hier sofort weg“. Und dann das Gefühl von „Da müssen wir gegen angehen, wir müssen uns zusammentun“ oder „Wo ist denn Hilfe?“. Dann fängt die Panik an so zu steigen, dass kurzfristig wieder alles in ein Entfremdungserleben geht. Das ist alles sinnvoll in einem immer stärker ansteigenden Stress. Da ist noch keine Traumatisierung passiert. Das ist einfach ein großes, stressreiches Geschehen in solchen Situationen.

Sie haben jetzt die Stresssituation beschrieben. Wenn man die Leute in den ersten Tagen oder Wochen nach der Flut beobachtete, konnte man sehen, dass ganz viele von ihnen funktionierten. Es gab ja auch unfassbar viel zu tun und man hatte den Eindruck, dass sie noch gar nicht so richtig realisiert hatten, was da passiert ist oder es vielleicht sogar verdrängten. Ist das wirklich so? Oder wann fängt die Verarbeitung dieser Erlebnisse an?

Vielleicht schauen wir uns zunächst das nächste Stadium an. Irgendwann sieht man plötzlich, dass alles schwankt, dass Wassermassen durch die Straßen rasen, dass Menschen die Feuerwehr rufen und so weiter. Es wird schlimmer und schlimmer. „Wer weiß, ob wir überhaupt hier rauskommen.“ Dann gibt es Todesangst. Und wenn solch eine existenzielle Angst um Leib und Leben der Angehörigen passiert, ist sozusagen die nächste Stufe erreicht. Dann ist das nicht nur sehr stressig, sondern dann reagiert das Gehirn radikal. Es schaltet immer wieder dramatisch runter. Man ist also in der Wahrnehmung hochgradig eingeengt und nur noch darauf fixiert, was man jetzt gerade in diesem Moment tun soll oder man geht weg. Das nennt man dissoziative Amnesie. Das Gehirn versucht auf diese radikale Weise zu sagen „Das musst du nicht speichern, da musst du dich nicht dran erinnern. Du musst nicht wissen, was du heute Morgen gegessen oder was du hinterher vor hast“. Danach gibt es ein starkes on-off zwischen hochgradig funktional und nichts geht mehr. Wenn wir erwachsen sind, dann versuchen wir – das ist biologisch vorgegeben – die unsrigen und uns selbst zu retten. Das sind biologische Funktionssysteme, die dann in Kraft treten, damit man ums Überleben kämpft. Der ganze Zuckerhaushalt im Organismus wird verwendet, um die Situation irgendwie zu bewältigen. Man kriegt 20 bis 30 Prozent mehr Energie als sonst. Man will unbedingt fliehen oder sich raus kämpfen. Dieser Modus bleibt vielen Leuten eine ganze Weile erhalten. Und er hat einen Preis, denn der Körper merkt sich alles. Irgendwann können die Leute also nicht mehr. Aber erst einmal ist man nur darauf aus, durchzukommen. Und die Leute, die viel Kraft hatten, die gerade sehr gesund waren, psychisch reife Persönlichkeiten, können das am längsten durchhalten. Diejenigen, die am schwächsten sind, am meisten vorbelastet, am instabilsten sind, die können es am wenigsten lange durchhalten. Aber im Prinzip versucht man immer erst aus der Situation rauszukommen. Das ist der Sinn, weshalb die Leute immer erst ins Funktionieren gehen.

Das heißt dann in dem Moment aber noch nicht, dass sie das Erlebte verdrängt haben, oder?

Es gibt verschiedene Abwehrmechanismen: verleugnen, verdrängen, dissoziieren. Verleugnen wäre: Man weiß genau, dass es passiert ist, will es aber nicht wahrhaben. Das machen viele Täter. Verdrängen heißt: Es ist ziemlich nah am Bewusstsein dran, aber man drückt es weg. Und das Dritte, was in übermäßigen Stresssituationen am häufigsten passiert, ist dissoziieren. Da wird automatisch alles, was hereinkommt – etwa ein Geruch, ein Bild, eine Wahrnehmung – auseinander geschoben und wie kleine Konservendosen irgendwo gebunkert; mit dem Preis, dass sie leicht „triggerbar“, also leicht auslösbar sind. Denn das Gehirn hat einen Inkohärenzdruck, es möchte solche komplizierten Sachen nicht lange machen müssen. Also wird es jede Gelegenheit nutzen, etwa ein Geruch, ein Bild, eine Wahrnehmung – und schon beginnen das Gehirn und der Körper zu suchen, wozu es gehört und was da noch war, um es wieder zusammenzumontieren. Diese Dissoziation findet sehr intensiv unter hohem Stress statt. Das ist ein unwillkürlicher Prozess, bei dem man nicht bewusst gegensteuern kann. Amnesie ist beispielsweise eine Dissoziation, aber auch die sogenannte De-Realisation. Das heißt, dass man die Umgebung oder den Körper nicht mehr richtig wahrnimmt. Menschen können mit Verletzungen herumlaufen, während sie ansonsten schreiend irgendwo zusammenbrechen würden – einfach, weil sie die Körperwahrnehmung abgeschaltet haben. Das passiert alles unwillkürlich. Und diese Prozesse versucht das Gehirn später wieder zusammenzukriegen. Irgendwann kriegt man also Schmerzen, Herzrasen oder Angstschweiß, zum Beispiel nachts. Die Erinnerungsdaten werden nächstes oder übernächstes Jahr viele Menschen sehr bewegen – innerlich, gefühlsmäßig, körperlich und gedanklich. Da kann man nichts dafür, das passiert einfach.

Zeit für professionelle Hilfe

In welchem Ausmaß oder auch in welchem Zeitrahmen sind diese Reaktionen denn normal und ab wann sollte man den Gedanken bemühen, auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Es kommt generell darauf an, wie stark die Reaktionen sind. Es gibt manche Leute, die immer wieder schreien und nicht mehr aufhören können. Oder die nicht mehr aufhören können zu weinen, sich extrem zurückziehen und gar nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen. Oder die sich nicht mehr pflegen können, sich nichts mehr zu essen machen können, die einfach dasitzen und auf die Wand starren. Diese Leute brauchen sofort Hilfe. Normalerweise ist es aber so, dass wir alle nach Extrem-Stress-Ereignissen solche bizarren Reaktionen hin und wieder haben: weinen, ärgerlich sein, wütend sein, Angst haben, körperlich darnieder sein, Hochspannung im Körper haben und so weiter. Alle Stadien, die wir erlebt haben, kommen noch mal vor, genauso wie alle, die wir dissoziiert, also nicht bewusst, empfunden haben. Das ist normal. Das kann sechs Wochen lang oder sogar bis zu drei Monate lang andauern. Unser Gehirn, unser Körper, unser Bindungssystem – all das muss sich erholen und muss wieder zur Normalität zurückfinden. Nur wenn solche starken Phänomene nach vier bis sechs Monaten immer noch nicht aufhören, sollte man Hilfe aufsuchen. Die meisten melden sich leider erst nach zwei bis drei Jahren. Sie versuchen lange zu funktionieren und tun es für sich selber ab. Aber es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass man für diese unwillkürlichen Prozesse nichts kann. Viele schämen sich, dass sie auch nach ein paar Monaten immer noch nicht damit klarkommen. Ihr persönlicher Organismus braucht mehr, braucht länger, braucht vielleicht auch Unterstützung.

Es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass man für diese unwillkürlichen Prozesse nichts kann. Viele schämen sich, dass sie auch nach ein paar Monaten immer noch nicht damit klarkommen.

Michaela Huber

Und deswegen sollten wir immer nach den Leuten schauen – besonders dann, wenn sie die Situation nicht mehr verlassen können und ihren Zustand nicht mehr selbst in einen anderen Zustand bewegen können. Dann fangen Menschen nämlich meistens an, ihren Stoffwechsel zu manipulieren. Dann trinken sie zum Beispiel mehr Alkohol, was ganz charakteristisch für Männer ist. Oder sie rauchen mehr. Manche versuchen, sich selbst zu schädigen und damit in einen anderen Zustand zu katapultieren. Mädchen und Frauen fangen an, sich zu brennen, sich zu schneiden. Kinder fangen an, sich büschelweise die Haare auszuziehen oder die Nägel blutig zu zerkauen. Das sind starke Versuche, auf den Organismus einzuwirken, um in einen anderen Zustand zu kommen, sich aus dem Unerträglichen zu retten. Und wenn wir solche Phänomene an Leuten erleben, dann wissen wir: die brauchen Hilfe. Die kriegen das allein nicht mehr in den Griff.

Trauma und PTBS: Angriff auf die Seele

In den Medien ist immer wieder von Trauma die Rede, auch in Bezug auf die Flutkatastrophe. Und die Helfer, die von ihren Hilfseinsätzen in der Region zurückkommen, erzählen davon, was die Menschen erlebt haben und dass sie traumatisiert sind. Kann denn der Begriff des Traumas auch zu häufig verwendet werden? Ab wann spricht man davon, dass eine schwere Belastung wirklich auch zu einem Trauma geworden ist oder zu Traumafolgestörungen führt?

Ja, der Begriff Trauma ist einer, der einerseits zu viel und andererseits zu wenig verwendet wird. Oft spricht man von Angststörung oder Depression, weil man das kennt und sieht dabei aber nicht, dass es eine Traumafolgestörung ist. Wie gut jemand mit einer Belastung fertig wird, ist individuell verschieden. Deswegen reden wir auch nicht von Flutkatastrophentrauma, Vergewaltigungstrauma, Unfalltrauma oder Kriegstrauma. Nicht das Ereignis ist das Trauma, sondern die Symptome, die dazu führen, dass eine Wunde – Trauma heißt ja Wunde –, in diesem Fall ein Psycho-Trauma, entsteht. Der eine Mensch wird also mit demselben Ereignis viel besser fertig als der andere. Für den einen ist es letztlich eine starke Belastungserfahrung, für den anderen ist es eine Traumatisierung oder vielleicht sogar eine Re-Traumatisierung, wenn man so etwas ähnliches schon mal erlebt hat. Man sieht es bei manchen älteren Menschen, die Kriegserfahrung haben und deren Häuser und Straßen plötzlich total zerstört sind, alles ist eine einzige Müllhalde. Dann kommen die Bilder aus dem Krieg, die sie re-traumatisieren können. Sie hatten also ihre Wunde von früher aus dem Krieg einigermaßen überdeckt und vorsichtig heilen lassen – so gut sie es eben konnten. Und dann kommt so ein neues Ereignis und plötzlich ist das Vollbild der posttraumatischen Belastungsstörung da. Posttraumatische Belastungsstörung heißt: Man erlebt immer wieder Szenen, Körpererfahrungen oder emotionale Erfahrungen aus der Situation. Die Folgen sind Rückzug bzw. Vermeidungsverhalten, Unter-Erregung (Symptome wie Trance-Zustände, fehlende Konzentration, Ausweichen oder sogar nicht mehr darüber reden zu können, also Vermeidung) oder Über-Erregung, die dazu führt, dass die Leute in der Regel Schlafstörungen bekommen, sie immer wieder sehr schnell in Angst oder Wut übergehen und sehr nervös sind. Nun gibt es Leute – so kompliziert ist die Welt –, die als Kinder schon viel Belastung erlebt und möglicherweise eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung haben, die durch das Ereignis hervorgerufen werden kann. Die komplexe PTBS ist gekennzeichnet durch eine Bindungsstörung –die Leute vertrauen also niemandem mehr, sie klammern übermäßig, was man auch bei Kindern sieht, und sie können ganz schlecht Impulse und Gefühle regulieren. Zudem haben diese Menschen allesamt ein Gefühl von Scham und Schuldgefühlen, auch wenn sie nicht erklärbar sind. Sie fühlen sich also mies und haben ein ganz schlechtes Selbstwertgefühl. Zudem können sie sich selbst wenig schützen, wozu auch die Selbstpflege oder Bewahrung vor schwierigen Situationen gehört. Das ist nicht gut ausgeprägt. Der Sinn im Leben ist verloren gegangen und die meisten haben auch sehr starke körperliche Phänomene: Entweder haben sie einschießende Schmerzsyndrome, die sich nicht erklären lassen oder sie fühlen nichts. Die meisten aber, die es einigermaßen gut hinbekommen haben, bekommen höchstens die PTBS mit den Symptomen Wiedererleben, Einschränkung und Über-Erregung. Sofern diese Symptome jedoch nicht vorhanden sind, würde ich auch behaupten, dass diese Person kein dauerhaftes Trauma hat. Dann kann die Person vielleicht darüber reden, sich Gedanken dazu machen und hat nicht total überschießende Emotionen, die sie gar nicht wieder einfangen kann. In dem Fall würde ich sagen, dass es eine schwere Belastung war, aber kein Trauma.

Jetzt haben wir ein wenig eingeordnet, wann man von einem Trauma spricht und wann noch nicht. In den ersten Wochen nach der Flut haben wir in der Region eine immense Hilfsbereitschaft aus der ganzen Republik und sogar darüber hinaus erlebt. Das hat uns alle sehr, sehr positiv überwältigt. Es war vielleicht sogar das Positivste, was wir seit langem erlebt haben – dieser Zusammenhalt und dass Menschen einander einfach geholfen haben, ohne etwas dafür zu bekommen. Aber die betroffenen Menschen brauchen ja nicht nur die praktische Hilfe, um ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen, sondern sie brauchen auch jemanden an ihrer Seite, der mit ihnen gemeinsam durch das geht, was sie erlebt haben. Wie können diejenigen, die sowieso zum sozialen Netz dazugehören, unterstützend mitgehen?

Es gibt viele Möglichkeiten, jemandem zu helfen, der unter den Folgen von solchen furchtbaren Ereignissen leidet. Das Wichtige ist, dass man sich diese Person anschaut. Man guckt und sieht „Brauchst du jetzt nur mal einen Tee oder Kakao oder Kaffee? Oder sollen wir mal ein bisschen reden?“. Das kann sehr unterschiedlich sein. Die einen sagen „Lass mich bloß in Ruhe, ich will nicht drüber reden“, was wir dann auch akzeptieren sollten. Im Laufe der Zeit kann sich das auch verändern. Irgendwann kann das Bedürfnis aufkommen. Aber mindestens 30 Prozent der Leute sagen nach so einem Megaereignis, dass sie nicht darüber reden möchten. Man kann dann aber sagen: „Willste einen Kaffee haben?“ oder „Mensch, hast du aber toll gemacht!“. Einfach das Selbstwertgefühl stärken und Trost spenden. Manche Kinder muss man natürlich immer mal wieder in den Arm nehmen oder über den Kopf streicheln oder sagen „Ach klasse, guck mal, das haben wir jetzt zusammen geschafft!“. Es braucht also liebevolle Zuwendung. Manche Menschen klammern auch und brauchen ein bisschen mehr davon. Andere wiederum sind sehr zurückgenommen – dann ist man dann behutsam. Die einen wollen viel reden, die anderen wollen überhaupt nicht reden, wieder andere wollen sich stark zurückziehen. Da sollte man nur schauen, dass sie darin nicht verharren. Manche müssen immer mal wieder weinen. Dann kann man sich danebensetzen und sagen: „Das war auch schwer!“ Das Weinen schwemmt die Stresshormone heraus, was häufig bei Leuten passiert, die während des Ereignisses gar nicht weinen konnten. Wenn die Leute aber nur noch weinen, dann sollte man sie ein bisschen ablenken oder überlegen, ob sie noch andere Arten von Hilfen brauchen. Wir wissen aus ganz vielen Studien eindeutig: Das Allerwichtigste ist die soziale Unterstützung. Lass niemanden zurück. Lass niemanden im Stich. Das muss die Devise sein! Dass wir aufeinander achten und zum Beispiel den alten Herrn bemerken, der jetzt schon drei Tage lang nicht mehr vor der Tür gewesen ist. Dann schaut man nach ihm, ob er irgendetwas braucht. Wenn er sagt „Nö, lass mich mal“, dann ist es auch gut oder man fragt, ob man was für ihn einkaufen kann. Man wendet sich freundlich aber auch behutsam einander zu. Charakteristisch ist nach solchen Mega-Ereignissen nämlich, dass alle auf die Leute zustürmen und teilweise auch viel zu viel angeboten wird und es hinterher – also nach zwei bis drei Jahren, wenn die Leute, die dauerhaft leiden, dann wirklich Hilfe brauchen – kaum noch Unterstützung gibt. Wir müssen diese Art von Hilfe also immer längerfristig anlegen und immer eine ganze Weile – ganz sicher mindestens drei Jahre nach dem Ereignis – sorgsam schauen, wer besondere Unterstützung braucht. Allgemein gilt für alle Menschen: Schau dir den Mitmenschen an. Sei achtsam, wertschätzend, liebevoll, freundlich, biete an, aber sei nicht beleidigt, wenn das Angebot abgelehnt wird.

Allgemein gilt für alle Menschen: Schau dir den Mitmenschen an. Sei achtsam, wertschätzend, liebevoll, freundlich, biete an, aber sei nicht beleidigt, wenn das Angebot abgelehnt wird.

Michaela Huber

Gilt das jetzt für alle in der Region oder nur für die, die keine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben?

Das gilt für alle. Viele Menschen können nicht reden und oder um Hilfe bitten. Die zeigen das an Symptomen: Kinder nässen plötzlich wieder ein, zeigen ein regressives Verhalten, lutschen beispielsweise wieder am Daumen oder krabbeln auf dem Boden herum, obwohl sie schon sieben, acht oder neun Jahre alt sind. Da merkt man, dass die Kinder Stresssymptome zeigen. Oder wenn das Spiel der Kinder immer wieder im Chaos endet und alles schlecht ausgeht, wenn die Kinder schlecht schlafen können und so weiter. Das sind Phänomene, in denen der Organismus erzählt, statt dass das Kind sagen kann „Ich brauche Hilfe“. Auf solche Phänomene müssen wir auch bei den Erwachsenen achten. Erhöhter Alkoholkonsum ist ein Beispiel. Dann weiß man: Da ist irgendwas im Argen.

Die Frage nach der Schuld

Nachdem der erste Schock etwas abgeflaut war und die Keller größtenteils leer geräumt waren, veränderte sich die Atmosphäre in der Region. Es gab zwar immer noch sehr viel zu tun, aber ich hatte den Eindruck, dass die Leute wieder so ein bisschen Zeit zum Nachdenken hatten. Und in dieser Reflexion über das, was passiert ist und wie es ihnen dabei ergangen ist, quält den einen oder anderen vielleicht die Frage, ob man es hätte verhindern können. Welche Rolle spielt die Schuldfrage bei der Verarbeitung?

Die Frage nach Schuld und auch der Zorn auf die Instanzen, die hätten helfen müssen oder können, ist in der Regel nach solchen Ereignissen auch aus der Verzweiflung heraus groß. Jeder, der sein Kind im Arm verloren hat, sein Haustier, sein Haus oder andere Dinge, die gravierend furchtbar sind, finanziell nicht ein noch aus weiß, braucht natürlich existenzielle Unterstützung. Und die darf nicht nur in einem guten, freundlichen Wort bestehen, sondern muss aus sehr handfesten Hilfen bestehen. Typisch für unsere Politik ist es, viel zu versprechen und wenig zu halten. Das heißt, dass es entweder ewig dauert, bis die Hilfen wirklich ankommen oder im Gießkannenprinzip mal so ein bisschen was ausgestreut wird. Das alles hat es bei der Flutkatstrophe auch gegeben. Die Menschen sagen dann: „Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit kommen wir nicht klar. Was sollen wir denn jetzt machen?“ Und dann wächst der Zorn und der Unmut sehr. Das ist wie so ein verlängerter Kampfmodus aus dem Mega-Stress, in dem man immer noch will, dass jetzt sofort Abhilfe geschaffen wird. Und da wieder zurückzukommen zu Langmut und sich sorgsam durch Berge von Anträgen durchzuwühlen, schaffen viele Leute am Anfang gar nicht. Die könnten die Dinger zerreißen, die gehen auf die Straße und schreien vor lauter Wut. Solche Phänomene sind in solchen Situationen ganz normal.

Die könnten die Dinger zerreißen, die gehen auf die Straße und schreien vor lauter Wut. Solche Phänomene sind in solchen Situationen ganz normal.

Michaela Huber

Wenn die Politik irgendetwas lernen will, dann dass man in Krisensituationen sofort genügend Menschen herbeiholt, die sagen: „Wir sind dran, wir machen das. Wir helfen ihnen, die ganzen Sachen auszufüllen.“ Da gibt es häufig sehr große Defizite. Stattdessen haben die Leute erlebt, dass Politiker im Wahlkampfmodus eingeflogen sind und sich dann ein bisschen präsentiert haben. Das macht die Leute wütend, nach dem Motto „Wir waren nur Staffage für irgendeinen Auftritt, der dann medial vermarktet wurde“. Wenn die Leute sich dann auch noch veräppelt fühlen, erzeugt das einen unglaublichen Unmut und Zorn. Jeder, der in die Region geht, muss bescheiden sein und nicht fürs Foto mal eine Hacke oder einen Spaten in die Hand nehmen und seine sauberen Klamotten mit Gummistiefeln zieren. Entweder packt man richtig mit an oder man ist einfach mitfühlend bei den Leuten. Man geht durch die Straßen, man setzt sich daneben und hört einfach mal zu. Es wird kübelweise Unmut kommen. Das ist so, das muss man als Verantwortlicher aushalten. Es muss politisch Verantwortung übernommen werden, sonst wächst dieser Unmut.

Keine Angst vor großen Gefühlen

Ja, Emotionen sind auf jeden Fall sehr vorherrschend. Ich frage mich, inwiefern wir auch als Gesellschaft lernen müssen, sie zuzulassen und dann auf eine gesunde Art und Weise mit ihnen umzugehen. Was haben wir dazuzulernen?

Es ist wichtig zu wissen, dass wir alle gesunde Emotionen haben und dass nach sehr großen Stressereignissen diese Emotionen auch sehr stark sein werden. Da muss man sich nicht erschrecken. In der Traumatherapie sagen wir immer: Keine Angst vor großen Gefühlen. Bei mir wird gelacht, geschrien, geweint. Ich habe meinen Patienten im Laufe der Jahrzehnte Tonnen von Taschentüchern gereicht. Das ist richtig, das ist wichtig, das gehört dazu und das ist gesund. Da müssen wir miteinander geduldig sein und nicht auf derselben Ebene zurückhauen: Wenn einer ängstlich ist, sind wir mit ängstlich, wenn einer wütend ist, sind wir sofort mit wütend.

Wenn einer ängstlich ist, sind wir mit ängstlich, wenn einer wütend ist, sind wir sofort mit wütend. Wir sollten versuchen füreinander auch ab und zu der Fels in der Brandung zu sein.

Michaela Huber

Wir sollten versuchen füreinander auch ab und zu der Fels in der Brandung zu sein. All die starken Emotionen sind vollkommen normal. Wenn wir uns das eingestehen könnten, miteinander durch so etwas durchgehen und uns gegenseitig nicht im Stich lassen, sondern beistehen, dann haben wir viel gewonnen. Denn das, was man sogenanntes posttraumatisches Wachstum nennt, ist auch interessant. Egal ob sie eine Krebserkrankung oder eine Gewalterfahrung hatten oder so etwas wie eine Flutkatastrophe durchmachen mussten – viele Menschen sagen im Nachhinein: „Ich hätte das nicht haben wollen. Aber es hat mich reifer werden lassen. Ich habe Fähigkeiten an mir selber entdeckt in diesen Extremsituationen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich habe Kräfte entwickelt, ich habe durchgehalten.“ Und umgekehrt habe ich ganz viel erlebt, was mich überrascht hat. Viele sagen, dass der Bekanntenkreis sich nochmal sortiert. Bei manchen Leuten, bei denen man sich sicher war, dass sie bestimmt für mich da sein werden, gab es unangenehme Überraschungen. Die haben sich nur um sich selbst gekümmert und einen fallen lassen. Und andere Leute, von denen man es vielleicht überhaupt nicht gedacht hätte, waren plötzlich für einen da. Das ist toll, wenn man das zusammen erlebt.

Ist es das, was man unter Resilienz versteht?

Es gibt zwei Arten von Resilienz. Da ist die Resilienz, die wir in den ersten Lebensjahren mitbringen – in der Regel durch gute, frühe, sichere Bindung und durch unsere Genetik. Manche sind dickfellig, andere dünnhäutig. So unterschiedlich sind wir halt. Die zweite Art der Resilienz ist die, die wir durch die Bewältigung von Stress bekommen. Und diese Art widerstandsfähiger für zukünftigen Stress zu werden, weil man etwas durchgestanden, durchgemacht hat und daraus gelernt hat – das ist auch ein großer Gewinn für viele Menschen. Das ist etwas, was viele jetzt in dieser Situation vielleicht noch gar nicht sehen können. Das werden sie vielleicht in ein, zwei, drei Jahren sehen können, was sie da auch geleistet haben und was ihnen da zugewachsen ist an Möglichkeiten, Fähigkeiten, an sozialem Halt, Unterstützung und neue Bekannte und Freunde. All diese Dinge sind sekundäre Resilienz.

Wie Kinder Traumata verarbeiten

Sie hatten schon ein paarmal die Kinder angesprochen und ich möchte nochmal darauf zurückkommen. Es sind ja sehr viele Kinder dabei gewesen, aber man kriegt sie in der Öffentlichkeit nicht so oft zu sehen. Und ich stelle mir vor, dass die Kinder von der Flutkatastrophe gleich doppelt getroffen wurden, weil sie zum einen schlimme Erlebnisse in der Flutnacht erlebt haben und vielleicht dort Schockierendes gesehen haben, etwa wie jemand sich nicht retten konnte. Zudem haben sie danach erlebt, dass nichts mehr wie vorher war. Die Eltern waren belastet und seitdem nonstop im Einsatz. Die meisten Kinder sind ja irgendwo anders untergebracht, weil sie in ihrem Zuhause nicht sein können. Inwiefern unterscheidet sich das Erleben der Kinder bei so einem Ereignis von dem, was Sie jetzt schon beschrieben haben?

Früher hat man gedacht: „Ach, das wächst sich aus. Die wissen das hinterher gar nicht mehr. Das ist vorbei.“ Gerade auch bei sehr kleinen Kindern. Das ist aber gar nicht so. Es ist so, dass das Gehirn der Kinder bis sie 12, 13 oder sogar 14 Jahre alt sind weiter Vernetzungen aufbaut und auch ganze neuronale Netzwerke bildet, mit denen man hinterher Sachen bewältigen muss, beispielsweise Ereignisse einsortieren. Wenn etwas so auf sie einstürzt, dann muss man schauen: Wie klein sind die Kinder, was haben sie genau erlebt? Also welche Art von Schockerfahrung haben sie in der Situation erlebt? Und wie war die Nachwirkung? Wenn die Eltern es schaffen, dem Kind Sicherheit und Geborgenheit zu geben, wird das Kind es besser verkraften. Wenn die Eltern aber sehr instabil sind – und das ist bei vielen Eltern der Fall, sobald die ganze Familie betroffen und alles in Aufruhr und in Aufregung ist –, kann man sich nicht so richtig kümmern und die Kinder bemerken die Aufregung der Eltern, die Instabilität im emotionalen Bereich, die Not und so weiter. Dann gibt es noch Umgebungswechsel und starke Reize, die auf das Kind einstürmen. Das Kind muss adaptieren, sich also an völlig neue Lebens- und heimische Situationen anpassen. Für die Kinder sind das Stressfaktoren. Es kommt ganz stark darauf an, wie viel Unterstützung das Kind kriegt. Selbst wenn es nicht die Eltern sind, sollte aber irgendjemand sagen: „Komm, ich nehm’ die Kleine mal“ und dann Ruhe, Sicherheit, Geborgenheit und Wärme geben. In einer ganz leisen, ruhigen Situation kann das Kind sich erholen. Das brauchen nicht nur die Großen. Das brauchen ganz besonders die Kinder. Wenn das nicht stattfindet, türmt sich etwas auf und dann haben wir unter Umständen später Folgeerscheinungen. Dann entwickeln Kinder oft eine Neigung dazu, in Krisensituationen schneller instabil zu werden und halten nicht so viel Stress aus. Und dieser Mangel an Stressresistenz wäre bei den Kindern meine größte Sorge.

In einer ganz leisen, ruhigen Situation kann das Kind sich erholen. Das brauchen nicht nur die Großen. Das brauchen ganz besonders die Kinder.

Michaela Huber

Es ist wichtig, dass die Kinder ruhige, sichere und bindungsstarke Umgebungen bekommen, in denen ihnen immer wieder vermittelt wird: Hier bist du sicher, alles wird gut. Es ist auch wichtig, dass man, wenn Kinder schreien, weinen und über Tisch und Bänke gehen, ihnen nicht gleich eine ADHS-Diagnose gibt, sondern bedenkt: Das ist ein Kind aus diesem Gebiet. Es braucht ganz viel Ruhe und es muss lernen, sich selbst zu beruhigen. Mit vielen Kindern, die solche Stresssituationen im Körper haben, muss man Übungen machen, damit sie lernen sich zu beruhigen, sich abzulenken, selbst aus solchen States – so nennt man solche Zustände, in denen sie sehr aufgeregt oder starr oder weinend sind – herauskommen können. Das fällt ja schon den Erwachsenen schwer. Und dann sollte man mit den Kindern üben – in der Schule, im Kindergarten, wo auch immer die Kinder dann sind –, Ruhe und Action gezielt miteinander abzuwechseln. Einfach mal eine halbe Stunde Ruhe machen, ein schönes Buch anschauen, ein Hörbuch hören oder das Kind an meiner Schulter liegen und sich ausruhen lassen und dann ein bisschen was erzählen. Die Gefahr ist – weil so viel Wichtiges zu tun ist –, dass die ganze Zeit Action ist und es ständig von Aktion zu Aktion geht.

Das mediale und politische Verlassensein

Sie haben jetzt darüber gesprochen, wie wichtig diese Unterstützung für die Kinder ist. Vor einiger Zeit sagten Sie in einem Interview, dass die Grunderfahrung jedes Traumas die Einsamkeit oder das Gefühl des Verlassenseins ist. Die Betroffenen der Flutkatastrophe haben in den vergangenen Wochen sehr viele Menschen vor Ort gehabt, die geholfen und angepackt haben. Das hat auch gut getan. Was passiert aber, wenn sie in den kommenden Monaten medial und politisch immer mehr vergessen werden? Das Interesse nimmt bereits ab und das wird wahrscheinlich noch so weitergehen. Kann sich daraus dann ein Trauma oder sogar ein weiteres Trauma entwickeln? Wie wirkt es auf die Betroffenen, wenn sie den Eindruck haben, nicht mehr gesehen und gehört zu werden?

Das sind zwei Phänomene. Das eine ist die Einsamkeit, das andere ist das Verlassenwerden. Das ist nicht dasselbe. Man kann mitten in einer Menschenmenge sein – denken Sie daran, als die Twin Towers in New York angegriffen wurden –, aber wenn man selber etwas durchmachen muss, selbst wenn tausende Menschen um einen herum sind, ist man so einsam, wie man nur einsam sein kann, weil man etwas erlebt, was unerträglich ist. Und das ist eine Art Einsamkeit, mit der sich viele Menschen auch auseinandersetzen werden müssen. Viele kompensieren das durch mehr sozialen Halt. Manche klammern, aber manche leben diese Einsamkeit zumindest phasenweise immer wieder aus. Das kann gesunde Aspekte haben wie Wandern und in die Berge gehen oder sich in einen Raum zurückziehen – man nimmt sich Zeit für sich selbst und kommt dann aber auch wieder heraus. Es kann aber auch sein, dass die Einsamkeit sich vertieft. Und dabei kann dieses zweite Phänomen eine Rolle spielen, nämlich dass man verlassen wird. Dieses Verlassensein kann an die allerersten Erfahrungen in der Kindheit erinnern. Wir werden alle irgendwann verlassen. Keiner ist ununterbrochen sicher für uns da. Und an diese sehr frühen Erfahrungen von Verlassensein kommt man dann heran, wenn man wieder verlassen wird – von der Politik, von einem anderen Menschen, von Behörden oder von Freunden.

Dieses Verlassensein kann an die allerersten Erfahrungen in der Kindheit erinnern. Wir werden alle irgendwann verlassen. Keiner ist ununterbrochen sicher für uns da.

Michaela Huber

Es werden sich auch viele Menschen scheiden lassen, weil die Belastung auf die Partnerschaften sehr, sehr hoch sind. Entweder wächst man mehr zusammen oder man geht weiter auseinander. Und für denjenigen, der durch diese Katastrophe von seinem engsten Partner verlassen wird, entsteht natürlich ein sehr starkes Phänomen von Einsamkeit durch das Verlassenwerden. Diese beiden Phänomene können sich aber aufeinander türmen und können dann sehr große Belastungen hervorrufen – also das, was erlebt wurde und schlimm war, noch verstärken.

Es werden sich auch viele Menschen scheiden lassen, weil die Belastung auf die Partnerschaften sehr, sehr hoch sind. Entweder wächst man mehr zusammen oder man geht weiter auseinander.

Michaela Huber

Menschen brauchen einander. Wir sind soziale Wesen. Wir müssen Schultern haben zum Anlehnen. Genauso wie wir Arme haben müssen, um andere zu halten. Wir sind einfach soziale Lebewesen, und wenn wir das nicht haben, wenn das nicht in ausreichendem Maße passiert, dann stürzen wir ins Bodenlose. Und das sind die schrecklichsten inneren Erfahrungen, die der Mensch machen kann.

Menschen brauchen einander. (…) Wir sind einfach soziale Lebewesen, und wenn wir das nicht haben, wenn das nicht in ausreichendem Maße passiert, dann stürzen wir ins Bodenlose.

Michaela Huber

Für viele Menschen beginnt jetzt eine Art Übergangszeit. Alle Helfer, die aus der Region zurückkommen, berichten, dass es Monate, wenn nicht Jahre dauern wird, bis die Leute wieder in ihre Häuser zurückkehren können, falls überhaupt. Diese Übergangszeit kann für die Menschen ja sehr belastend sein, wenn nicht kurzfristig absehbar ist, dass sie zurück in ihre Häuser, in ihren Alltag können. Was ist wichtig, um diese Übergangszeit gut auszuhalten?

Hier können wir von Menschen lernen, die im Exil sind. Wir wissen, dass es immer ein starker Belastungsfaktor ist im Exil zu sein, also außerhalb dessen, was einem die Heimat oder das Zuhause ist. Erstens ist es wichtig, dass die Leute das wissen. Das heißt, diese Menschen soll man vor allem nicht isolieren, wie das häufig mit Leuten passiert, zum Beispiel mit Flüchtlingen. Es kann aber auch passieren, dass die Lebensumstände so chaotisch sind, dass man sagt: „Das ist jetzt gar kein Zuhause für mich. Hier kann ich mich gar nicht sicher fühlen“. Wir brauchen unbedingt ein Gefühl von sicherer Umgebung. Unsere Wohnung ist unser Intimbereich und wenn da was nicht stimmt, ist das extrem belastend für die Menschen. Das kommt noch obendrauf zu dem, was sie vorher erlebt haben.

Wir brauchen unbedingt ein Gefühl von sicherer Umgebung. Unsere Wohnung ist unser Intimbereich und wenn da was nicht stimmt, ist das extrem belastend für die Menschen.

Michaela Huber

Außerdem ist sehr wichtig für die Menschen, dass sie sich Nischen schaffen, Räume schaffen – und wenn es nur eine Ecke ist, wo es gemütlich und ruhig ist. Kinder versuchen sich das auch zu schaffen, zum Beispiel draußen in der Natur, indem sie sich Höhlen oder Baumhäuser bauen oder sonst was. Man merkt, dass Kinder unbedingt solche Räume brauchen. Und wir Erwachsenen brauchen das auch. Wir brauchen unsere warme, sichere Höhle – und das sollte man versuchen herzustellen, damit man sich ein bisschen geborgen fühlen kann.

Gemeinsam lässt sich ein Trauma besser bewältigen

Ich möchte nochmal auf die Tragweite der Katastrophe eingehen, denn wir sprechen ja nicht von einzelnen Personen, die etwas Schlimmes erlebt haben, sondern von einer ganzen Region, in der fast jeder betroffen ist. Wenn auch nicht jeder eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, ist aber fast jeder in irgendeiner Weise betroffen. Was bedeutet das für die Menschen, dass sie nicht als Einzelperson betroffen sind? Ist es gut, dass es noch andere gibt, die sie verstehen können? Oder ist es nachteilig, weil jeder mit sich selber beschäftigt ist? Oder beides?

Es kann beides sein. Aber Studienergebnisse zeigen uns, dass solche Gemeinschaftserfahrungen in der Regel besser verarbeitet werden. Das hat damit zu tun, dass wir es gemeinsam realisieren. Es wird also wahr. Es ist wahr. Wir wissen umgekehrt, dass besonders die Belastungserfahrungen schlecht verarbeitet werden, bei denen jeder so tut, als wäre nichts. Und deswegen ist es wichtig, dass die Leute einander nicht so anschnauzen: „Das ist völlig normal. Dem anderen ist es doch viel schlimmer ergangen.“ So was darf man nicht machen!

Wir wissen umgekehrt, dass besonders die Belastungserfahrungen schlecht verarbeitet werden, bei denen jeder so tut, als wäre nichts.

Michaela Huber

Jeder, der weint oder Kummer hat, muss in seinem Kummer ernst genommen werden, weil das individuell verschieden ist. Für den einen ist der Verlust vom Kellerinventar die absolute Katastrophe und für die anderen der Verlust von Angehörigen, dem ganzen Haus, dem ganzen Dorf. Nun darf man das nicht gegeneinander aufrechnen. Das finde ich etwas sehr wichtiges. Das muss man auch diesen Kollektiven immer sagen. Für jeden ist es individuell. Es gibt keine Hitparade von Leid. Jeder der ein Leid erlebt, muss in seinem Leid ernst genommen und mitgenommen werden. Wenn man das einigermaßen beherzigt, wird ein Kollektivtrauma auf Dauer besser verarbeitet als ein individuelles allein.

Es gibt keine Hitparade von Leid. Jeder der ein Leid erlebt, muss in seinem Leid ernst genommen und mitgenommen werden.

Michaela Huber

Denken Sie an sexuellen Missbrauch in den Familien. Da tut jeder so, als wäre nichts. Niemand redet darüber. Das Kind denkt, es sei völlig normal missbraucht zu werden. Diese Phänomene sind sehr, sehr schwer zu verarbeiten. Oder wenn einem jemand, der eine nahe Bindungsperson ist, Gewalt antut. Das ist etwas, was sehr schwer zu verarbeiten ist. Wenn es aber so ein Naturereignis ist, ist es etwas, was die Menschen in der Regel über kurz oder lang wie einen Schicksalsschlag, der sie alle getroffen hat, wahrnehmen können. Das kann man auch nur empfehlen, sich da nicht festzubeißen nach dem Motto „Da ist der Landrat schuld“, sondern dass man sagt: „Es war schrecklich. Die haben das nicht vorhergesehen. Aber wir halten uns nicht daran auf, einen Sündenbock aufzubauen. Sondern es hat uns alle eine Katastrophe getroffen und wir halten jetzt zusammen, auch auf längere Zeit. Wir tragen das zusammen, egal ob die da draußen im Rest der Bundesrepublik wieder zum Alltag übergehen. Wir wissen, was wir erlebt haben und wir wissen, dass es noch Jahre brauchen wird, bis wir das hoffentlich gemeinsam überwunden haben.“

Kürzlich forderten Lokalpolitiker aus dem Ahrtal: „Ein Programm zur Traumabewältigung muss her. Die schrecklichen Bilder werden uns bis ans Lebensende begleiten.“ Wenn Sie für die Planung eines solchen Programms zuständig wären, wie würde es aussehen?

Erstens bezweifle ich diesen Satz, dass sozusagen alle fürs Leben geschädigt sind. Auch das wissen wir aus der Erfahrung und aus Studien, dass man den Leuten nicht einreden darf: „Das wirst du nie überwinden.“ Aber man muss für die Menschen trotzdem etwas tun. Man sollte ihnen freundliche Angebote machen. Dazu gehört auch aufsuchende Arbeit, weil viele Leute sich in der Folgezeit schämen werden, Hilfe zu suchen. Das heißt, dass wir telefonisch nachfragen oder auch mal vorbeischauen werden. So etwas würde ich aufbauen. Ich würde den Leuten regelmäßige Begegnungsmöglichkeiten anbieten im Sinne von Café, Jugendtreff, Familientreffs und so weiter. Dabei wäre immer klar, dass wir da sind, dass wir ansprechbar sind und dass wir alle Formen von Unterstützung anbieten.

Ich würde den Leuten regelmäßige Begegnungsmöglichkeiten anbieten im Sinne von Café, Jugendtreff, Familientreffs und so weiter.

Michaela Huber

Was mir wichtig wäre: die Leute nicht zu pathologisieren. Ja, die haben etwas Schreckliches erlebt und es wird eine Weile dauern, bis sie davon genesen sind. Manche werden sich festhalten an Äußerlichkeiten, aber andere werden sich vielleicht trauen, über Gefühle zu reden. Und beides muss akzeptabel sein. Man kann den Leuten also nicht sagen „Wir sind nur für die Psyche zuständig“. Deswegen muss es so ein allgemeines Angebot geben, zu dem jeder Zugang findet. Jungs und Männer reden nicht gern über Gefühle, die machen was zusammen. Und das würde ich fördern. Ich würde Sozialpädagogen einsetzen, die mit Jungs was bauen, mit den Männern mal in eine Schwitzhütte gehen. Die Frauen reden gern auch über Gefühle. Die kuscheln sich zusammen. Da würde ich irgendwelche Aktionen machen, bei denen sie etwas Gemeinsames tun können. Dabei sprechen, nebenher anreden und dann auch mal ein konkretes Gesprächsangebot machen. So würde ich solche Arbeit aufziehen. Ich habe direkt nach dem Krieg im Kosovo gearbeitet, da haben wir genau so gearbeitet. Das ist hier vergleichbar, da die Flutkatastrophe wie eine Kriegserfahrung gewesen ist. Man macht einfach freundliche Angebote, die für alle etwas bieten, wo man sich andocken kann. Und beim zweiten, dritten, vierten, fünften Mal kann man auch ein Gespräch führen. Man sollte nicht erwarten, dass die Leute freiwillig in Beratungsstellen kommen oder in Psychotherapie. Die Schwelle ist zu hoch.

Man sollte nicht erwarten, dass die Leute freiwillig in Beratungsstellen kommen oder in Psychotherapie. Die Schwelle ist zu hoch.

Michaela Huber

Die Lösung: Erkennen, anerkennen, verändern

Sie haben jetzt mehrmals gesagt, einer der ersten Schritte ist es, anzuerkennen, was da ist, und dem Raum zu geben. Nun sind wir Deutschen ja vor allem bekannt als Problemlöser und mögen gerne Probleme möglichst schnell wieder gelöst haben. Wie können wir lernen, diese unangenehmen und auch belastenden Erlebnisse auszuhalten? Oder warum fällt uns das überhaupt so schwer?

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. So wollen wir es gerne haben. Erkennen ist das eine – also hier ist etwas Schlimmes oder hier muss was getan werden –, und wenn wir etwas verändern wollen, ist noch etwas dazwischen. Das nennen wir anerkennen. Erkennen, anerkennen, verändern – das ist der Weg. Anerkennen ist das Schwierigste, weil es bedeutet, dass wir bestimmte Dinge noch nicht lösen können, aber feststellen, dass es ein Problem ist. Es bedeutet zu sagen, dass etwas wirklich schwer ist und da eigentlich auch unmittelbar etwas passieren müsste. Was machen wir jetzt damit? Wir gehen nicht in irgendeine Aktion, wenn wir denken, dass das jetzt erst mal nichts bringt, sondern wir müssen uns Zeit nehmen. Das ist aber durch den Stressfaktor, der bei solchen Ereignissen auch langfristig wirkt, schwierig. Da wollen die Leute schnelle Lösungen. Und da ist es gut, wenn Helfer immer wieder sagen: „Ja, ich höre zu. Jetzt warte mal, noch nicht so schnell machen. Lass uns noch einen Moment überlegen, was alles dazu beitragen könnte, dass wir es kurzfristig, mittelfristig, langfristig lösen können.“ Da braucht es Leute, die nicht so drin sind, sondern die so ein bisschen Fels in der Brandung für andere sein können. Wir Therapeuten machen das ständig. Die Leute kommen zu uns und sagen: „Mach das weg.“ Und wir müssen dann ganz liebevoll und geduldig zuhören und sagen: „Ja, das möchten Sie. Aber damit wir es wegmachen können, müssen wir erst mal wissen, wofür es da ist. Also müssen wir es genau anschauen.“ Wir müssen schauen, was es für eine Bedeutung hat, wo es herkommt, was jetzt los ist. Und dann können wir überlegen: Ist es jetzt dran, unmittelbar etwas zu verändern? Oder müssen sie vorher etwas lernen, entwickeln, überprüfen? Das bedeutet: erkennen, anerkennen, verändern. Und dieser Prozess wird in Stressphasen sehr schnell übergangen. Dann hat man hinterher manchmal mehr Probleme als vorher. Also deswegen ist diese Action-Tendenz einerseits zu verstehen, andererseits braucht es immer Leute, die sagen „Lass uns ganz sorgsam hinschauen, damit wir es auch mittel- und langfristig gut finden werden“.

Erkennen, anerkennen, verändern – das ist der Weg. (…) Und dieser Prozess wird in Stressphasen sehr schnell übergangen. Dann hat man hinterher manchmal mehr Probleme als vorher.

Michaela Huber

Gegen die Spaltung der Gesellschaft

Bei all dem, worüber wir jetzt gesprochen haben, komme ich um ein anderes Thema leider nicht ganz herum – und das ist Corona. Denn die Flutkatastrophe ist ja mitten in eine andere Krise geplatzt, die sich dadurch leider nicht aufgelöst hat. Wir hören viel davon, was Corona für die Wirtschaft und für die Politik bedeutet. Aber wir hören so gut wie nichts darüber, was sie für die menschliche Seele bedeutet. Nun haben wir die Flutkatastrophe und Corona – zwei sehr heftige Ereignisse. Wie schauen Sie als Psychologin auf diese Geschehnisse?

Was wir in einer Gesellschaft vermeiden sollten, ist, dass wir die Gesellschaft spalten. Ich sehe da mit Sorge drauf. Was in der Corona-Krise passiert, ist, dass Wege eingeschlagen werden, die als alternativlos dargestellt werden. Und dass dabei Menschen hinten runterfallen, die sich zum Beispiel nicht impfen lassen können oder die die Masken nicht aushalten.

Was wir in einer Gesellschaft vermeiden sollten, ist, dass wir die Gesellschaft spalten. Ich sehe da mit Sorge drauf.

Michaela Huber

Ich bin spezialisiert auf schwere und frühe Traumatisierung und ein Großteil meiner Klientel hat im Erwachsenenalter Lungenprobleme. Diese Menschen halten das Maskentragen auf Dauer nicht aus. Das ist ein Beispiel dafür, dass wir niemanden zurücklassen dürfen. Wenn jetzt bestimmte Dinge als alternativlos dargestellt werden, gehen manche Menschen zum Beispiel nicht mehr zum Arzt, wenn sie es bräuchten oder fühlen sich ausgegrenzt. Solche Phänomene machen mir großen Kummer. Die vielen Maßnahmen bedeuten für die Menschen Stress und das bekommt man überall zu spüren. Es wäre wichtig, dass die Politik so etwas abfedert, aber das sehe ich in der jetzigen Regierung nicht. Die Politik müsste inklusiv arbeiten und sagen: „Ja, wer Covid-19 bekommt, kann sehr krank werden. Gleichzeitig wollen wir auch Menschen, die aus welchem Grund auch immer gegen eine Impfung sind oder Maskenprobleme haben, in die Diskussion einbinden und Freiheitsrechte für alle so schnell wie möglich wiederherstellen. Wir wollen achtsam, wertschätzend und respektvoll mit allen Menschen umgehen – auch mit denjenigen, die aus welchem Grund auch immer anderer Meinung sind.“ Wir haben in Partnerschaften, in Teams, in Freundeskreisen Spaltungen. Das dürfen wir doch als Gesellschaft nicht zulassen! Es muss wieder offener diskutiert werden, finde ich. Es muss wieder gesehen werden, was für ein enormer Stress in der Gesellschaft durch die Maßnahmen stattfindet und nicht nur durch die Erkrankung selbst. Wenn sich so etwas türmt wie die Flutkatstrophe plus das ganze Maßnahmengeschehen, wo die Leute voneinander isoliert werden, dann sind das große Stresszeiten für unsere Gesellschaft, die wir auch politisch, gesellschaftlich und sozialpsychologisch aufarbeiten müssen. Und mir fehlt da in der Politik ein offenes Ohr dafür.

Die Hoffnung überwiegt

Wenn man sich wie Sie über Jahrzehnte die tiefsten Abgründe der Menschheit anschaut – überwiegt im Rückblick die Hoffnung oder die Desillusion über uns Menschen?

Auf jeden Fall die Hoffnung. Der Mensch kann Ungeheuerliches – erstmal überleben. Und von einem Überleben zu einem Leben danach, das möglichst lebenswert ist, das Genuss, Freude und Glücksmomente enthält – das kann man lernen. Menschen, die grausamste Dinge erfahren haben, können lernen gute Beziehungen zu führen, Kinder liebevoll aufwachsen zu lassen. Zwischendurch habe ich auch mal – wie jeder andere, der sich damit beschäftigt – Tiefstmomente. Man kann Menschen innerhalb von wenigen Stunden oder manchmal sogar innerhalb von wenigen Momenten fürs Leben schädigen, sodass sie den Rest des Lebens damit beschäftigt sind, da wieder herauszukrabbeln. Und wir haben dann vielleicht hunderte oder tausende von Stunden miteinander zu verbringen, bis der Mensch da wieder wirklich stabil im Leben steht. Das kann einen schon manchmal niederdrücken. Aber ich gehöre zu den Leuten, die nie aufgeben. Aufgeben ist keine Option. Lass niemanden zurück. Der Schwächste gibt das Tempo vor. Begnüge dich niemals mit dem Schlechten und sei auch nicht ein Komplize der schlechten Verhältnisse, sondern sprich die Wahrheit, sei aufrichtig und respektiere andere Menschen, biete immer wieder etwas an. Geh’ in Beziehung. Setz’ dich auseinander, setz’ dich zusammen. Das habe ich in meinem privaten wie beruflichen Leben immer wieder erlebt, sodass für mich eine pessimistische Sicht gar nicht in Frage kommt.

Ich gehöre zu den Leuten, die nie aufgeben. Aufgeben ist keine Option. Lass niemanden zurück. Der Schwächste gibt das Tempo vor.

Michaela Huber

Sie haben Ihr ganzes berufliches Leben der Traumatherapie und -heilung gewidmet. Das tun Sie, weil sie zutiefst davon überzeugt sind, dass Traumata heilen können. Was sagen Sie den Menschen, die jetzt gerade in den Trümmern ihres Lebens stehen und kein Licht am Ende des Tunnels sehen?

Ich würde mich erst einmal daneben setzen und genau das wahrnehmen, was sie ausstrahlen und sagen wollen. Ich würde es nicht besser wissen wollen. Das wäre mein erster Schritt: Dasein für den anderen Menschen. Das ist das Allerwichtigste. Und was ich ausstrahlen würde, wäre: „Ja, das war sehr sehr schwer. Da bist du jetzt. Magst du schauen, ob es auch weitergehen kann? Vielleicht können wir es zusammen anschauen?“ Das wäre mein Ansatz.

Das wäre mein erster Schritt: Dasein für den anderen Menschen. Das ist das Allerwichtigste.

Michaela Huber

Michaela Huber, vielen Dank für das Gespräch.

Foto: © Debora Höly

Diese Episode war relevant für dich? Gerne kannst du uns unterstützen:

Ähnliche Episoden